Recht und Justizhoheit: Ursprünge der Garantie des gesetzlichen Richters fern der Gewaltenteilungskonzeptionen des 17 - 19. Jahrhunderts

AutorUlrike Seif
Páginas865-896

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I Einleitung

Die Forderung einer Witwe nach ihrem zuständigen Richter an den römischen Kaiser Trajan ist dank der Schilderung im 10. Gesang des Purgatorio der Divina Commedia ein der europäischen Literatur und Kunst vertrautes Motiv. Recht für den zerbrochenen Krug in Heinrich von Kleists gleichnamigem Lustspiel verlangt Frau Marthe im letzten Auftritt nach Entlarvung des Richters Adam vom zuständigen Richter in Utrecht 1. Die Garantie des gesetzlichen Richters berührt somit einen grundlegenden Aspekt der Gerechtigkeit: Recht gewährt der nach Gesetz zuständige Richter. Page 866

Wie das Bonner Grundgesetz enthalten auch die Verfassungen der anderen EG-Mitgliedstaaten mit Ausnahme Großbritanniens überwiegend in den Grundrechtskatalogen eine Garantie des gesetzlichen Richters. 2Übereinstimmend normieren die einzelstaatlichen Formulierungen einen Gesetzesvorbehalt für die richterliche Zuständigkeit. Dies berechtigt zu der Frage nach einer gemeinsamen europäischen Verfassungstradition der Garantie des ge setzlichen Richters. Diese Fragestellung geht von der Prämisse aus, daß die Verfassungsentwick lungen sich in den einzelnen europäischen Staaten nicht isoliert, sondern auf gemeinsa men Grundlagen und unter gegenseitiger Beeinflussung vollzogen haben. Die Entwicklungen der einzelstaatlichen Garantien des gesetzlichen Richters lassen sich anhand der konkreten Konfliktlage vergleichen, gegen die das Recht auf den gesetzlichen Richter jeweils formuliert ist. Diese Schutzrichtungen der einzelstaatlichen Formulierungen dienen als Vergleichspunkte bei der Herausarbeitung einer europäischen Verfassungstradition des Rechts auf den gesetzlichen Richter.

Naheliegend erscheint die Schutzrichtung gegen absolutistische Machtfülle, für die sich im Bereich der Justiz im 18. und 19. Jahrhundert das Schlagwort der Kabinettsjustiz etabliert. 3Damit kommen als gemeinsamer Ursprung der Forderungen nach dem gesetzlichen Richter die Lehren von der Gewaltenteilung in Betracht, die seit dem 17. Jahrhundert das Staatsdenken der europäischen Länder beeinflußt haben. Vor diesem Hintergrund werden nach einleitenden Bemerkungen zum kanonischen Recht als der gemeinsamen Grundlage europäischer Verfahrensrechte die Entwicklung der französischen, der englischen und der deut schen Formulierungen dargestellt. Diese Auswahl erscheint durch den Repräsentativcharakter dieser Rechtsordnungen für den romanischen, den angelsächsischen und den deutschen Rechtskreis gerechtfertigt. Der historische Vergleich der For- Page 867mulierungen anhand ihrer Schutzrichtungen am Schluß dieses Beitrages sucht eine Antwort auf die Frage nach einer gemeinsamen europäischen Verfassungstradition der Garantie des gesetzlichen Richters.

II Kanonistische Grundlagen

Ausgangspunkt der Suche nach Ursprung und Geschichte der Garantie des gesetzlichen Richters ist die in C.2 q.1 c.7 verankerte Gerechtigkeitsfunktion des ordo iudiciarius. Eine maßgebliche Leistung des gelehrten kanonischen Rechts liegt in der Konzeption der richterlichen Zuständigkeit als Verfahrensgarantie. Dem justinianischen römischen Prozeß war eine Ausgestaltung der Verfahrensvoraussetzungen als Einreden unbekannt 4. Erst der ordo iudiciarius des gelehrten Prozeßrechts hat den Schutz der Parteien vor einer verfahrensfehlerhaften Verurteilung zum Gegenstand, und zwar vor dem Hintergrund kirchlicher Konflikte mit anderen Trägern der Gerichtsgewalt (C.11 q.1 c.49): Das verfahrensrechtlich fehlerhafte Urteil ist nichtig (C.2 q.1 c.7).

In der dem gelehrten Prozeß eigenen gegenseitigen Durchdringung des gelehrten römischen und des gelehrten kanonischen Rechts überwinden Dekretistik 5und frühe Dekretalistik 6im Zuge der kirchlichen Rezeption des römischen iurisdictio-Begriffes die rein örtliche Zustän digkeitsvorstellung der Legisten in C.7.48 und C.7.45.14 und entwickeln die richterliche Zu ständigkeit als Verfahrensgarantie: Die Unzuständigkeit des Richters führt zur Nichtigkeit seines Urteils (X 2.1.4) 7.

Die Rationalität des kanonischen Prozesses (C.2 q.1 c.7 rubr.; C.2 q.1 c.7 § 3) erfordert die Beachtung des formalen ordo iudiciarius und die Rechtsgebundenheit der Entscheidungsfindung. Verfahrensrechtliche Gerechtigkeit (iustitia ex ordine) und inhaltliche Gerechtigkeit (iustitia ex animo) ergänzen sich. Aus der Verbindung der Gerechtigkeit ex ordine und ex animo mit der Verfahrensgarantie des zuständigen Richters folgt das in X 1.4.3 8enthaltene Verbot der Trennung Page 868zwischen Richter und Urteiler: Der selbsturteilende gelehrte Richter (X 1.4.3) setzt diese Komplementarität um. Er wird in der Figur des Offizials verwirklicht. Die Koinzidenz dessen ersten Auftretens zu der mit der Summa Decreti (1166- 1169) des Étienne de Tournai einsetzenden Bearbeitung der Fragen richterlicher Zuständigkeit deutet auf einen inhaltlichen Zusammenhang hin: Solange der kirchliche Richter als bischöflicher Sendherr nur eine verfa hrensleitende Funktion hatte, spielten Zuständigkeitsfragen keine Rolle. Erst mit dem selbsturteilenden Richter interessiert die Frage nach dem zuständigen Richter, haben Zuständigkeitsregeln eine Schutzrichtung zugunsten der Parteien.

Durch die europaweite Ausbreitung der Offizialate 9setzt sich die von der Kanonistik grundgelegte Gerechtigkeitsfunk tion der Verfahrensordnung in den Rezeptionsgebieten durch.

III Entwicklung Französischer Formulierungen

Die Schutzrichtung französischer Formulierungen des Rechts auf den gesetzlichen Richter (juge naturel) wurzelt in der im 16. Jahrhundert entstehenden Konfliktlage zwischen monarchischem Zentralismus und ständischen Selbstverwaltungsrechten. Die frühesten französischen Formulierungen der Garantie des gesetzlichen Richters entspringen dem ständischen Protest gegen monarchische Kommissionen 10. Der begriffliche Gegensatz zwischen ständisc hem Ju stizamt (office) und königlichem Auftrag (commission) setzt den formalen Verstoß gegen die Zuständigkeitsordnung der Justizämter mit inhaltlicher Willkür gleich: Der Inhaber eines ständischen Justizamtes ist selbständig, der königliche Kommissar weisungsabhängig 11. Die Page 869 gesetzesgebundene Entscheidung des Justizbeamten ist vorhersehbar, während die weisungsgebundene Einzelfallentscheidung des Kommissars un vorhersehbar ist.

Grundlage für die begriffliche Gegenüberstellung von Amt (office) und Auftrag (commission) ist die Orientierung der Souveränität und damit der Just izhoheit (justice retenue) als Souveränitätsrecht am na türlichen und göttlichen Recht 12, die im französischen Antimachiavellismus unter der Federführung von Jean Bodin dem Machtutilitarismus entgegengesetzt wird 13.

Die Antonymie Amt (office) - Auftrag (commission) ist übereinstimmendes Motiv des in den Ordonnances des 15., 16. und 17. Jahrhunderts dokumentierten ständischen Kampfes gegen königliche Justizkommissionen. Die Ordonnance von Montils-les-Tours 1453 14, die Ordonnance sur l´administration de la justice 1493 15und die Ordonnance de Blois 1498 16legen davon beredtes Zeugnis ab. Die Ordonnance von Orléans 1560 17, die Ordonnance von Roussillon 1563 18, die Ordonnance von Moulins 1566 19, die Ordonnance von Blois 1579 20und das Édit sur l´administration de la justice (das sog. Édit de Rouen) 1597 21setzen die Reihe im 16. Jahrhundert fort. Der Code Michaud 1629 22und das Edit du Roy servant de Reglement pour les Epices, Page 870 Vacations des Commissaires & autres frais de Justice 1685 23bezeugen den ständischen Protest gegen Justizkommissionen im 17. Jahrhundert.

Der begriffliche Gegensatz zwischen Auftragsjustiz und Justizämtern der ordentlichen Richterschaft beherrscht auch im 18. Jahrhundert die Beschwerden (remontrances) des Parlement de Paris gegen ´juges arbitrairesª 24, ´juges extraordinairesª 25und ´voies irrégulièresª 26. Diese antonyme Struktur bestätigen auch die Remontrances sur les Entreprises du Grand Conseil vom 27.11.1755 27und die Itératives Remontrances (Parlement de Paris), Arrêtes et Représentations sur l´État du Parlement de Bretagne et la Commission de Saint-Malo vom 2.2.1766 28. Mit der Opposition der parlements gegen königliche Justizkommissionen zur Ausschaltung der ständischen selbstverwalteten Justiz stimmt Montesquieus Justizkri tik überein.

Auch hinter seinem Hauptmotiv der Vermittlung der Herrschergewalt durch adelige Zwischengewalten (pouvoirs intermédiaires 29; rangs intermédiaires 30) statt unvermittelter direkter Herrschaftsmacht ist der Gegensatz Ju stizamt-Kommission erkennbar. Im XI. Kapitel der Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence erscheint der ordentliche Justizbeamte (magistrature) als Gegenbegriff zu den Kommissaren. 31Die Mittelbarkeit der Herrschergewalt entspricht der Mäßigung der Staatsgewalt, wodurch politische Freiheit erst mög lich wird 32. Un vermittelter Machtgebrauch durch den Herrscher selbst oder durch Kommissare beeinträchtigt dagegen die Freiheit 33. Page 871

Der Gedanke der Mäßigung der Justizhoheit durch ordentliche Justizbeamte als selbständige Zwischengewalten entspricht Montesquieus Ideal der monarchischen Mischverfassung auf grund einer Gewaltenbalance zwischen den sozialpolitischen Kräften Krone, Adel und Bür gertum 34. Die Selbständigkeit des Justizamts gegenüber dem Willen des Souveräns beruht daher nicht auf einer konstitutionellen Gewaltentrennung. Die Vermittlung der Justizhoheit enthält keine Forderung nach einem rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalt für richterliche Zu ständigkeiten 35, der ohne Volkssouveränität als Grundlage für die Vorherrschaft der Legisla tive und des Gesetzes undenkbar ist. Montesquieus Forderungen nach selbständigen Zwi schengewalten richten sich nicht auf rechtsstaatliche Unabhängigkeit. Der Fehlinterpretation...

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