Europa als rechtsgemeinschaft

AutorMichael Stolleis
Páginas465-474

Wissenschaftliches Kolloquium im Rahmen des Walter-Hallstein-Symposiums, 10. November 2008; Träger des Walter-Hallstein-Preises 2008 war Claudio Magris (Die Vortragsform wurde beibehalten).

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I

Europa als Rechtsgemeinschaft" ist eine Formel Walter Hallsteins, die später noch einmal von Jacques Delors aufgenommen wurde. Hallstein war nicht nur brillanter Frankfurter Jurist, sondern einer der entscheidenden Promotoren des neuen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Robert Schuman, Alcide de Gasperi, Paul Henri Spaak, Jean Monnet und Konrad Adenauer waren die legendären Gründungsväter, Hallstein, Franz Etzel, Carl Friedrich Ophüls (wieder ein Frankfurter), Hans von der Groeben, Karl Carstens, Paul Barandon, Wilhelm G. Grewe, Ulrich Everling und andere waren die an vielen Stellen wirkenden Juristen, die in jenen Jahren, mit dem Optimismus der Nachkriegsgeneration und des Neuanfangs, Europa auf den Weg brachten. Dieser Weg reicht vom Europarat (1949) über die Montan-Union (1951) zur gescheiterten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (1954), zum Schuman- Plan und schließlich zu den Römischen Verträgen von 1957. Die folgenden Jahre waren von europäischem Optimismus und einem Willen zur Ausfüllung der Verträge bestimmt. Man erwartete eine gegenseitige Stimulierung des freien Warenverkehrs, der Freizügigkeit und des Agrarmarkts, so dass an ein Zurück in voreuropäische Nationalismen nicht mehr zu denken war. Page 466

Wesentliches Bauelement war das ,,Recht", sowohl in der Politik der Kommission als auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der den Vorrang des europäischen Rechts bei Kollisionen mit nationalstaatlichem Recht durchsetzte.

In diesem Zusammenhang fiel Hallsteins Wort, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, wie sie damals noch hieß, sollte ,,Rechtsgemeinschaft" werden1. Auch die ,,europäische Rechtsgeschichte" entdeckte gleichzeitig eine Chance. Europäisch angelegte Privatrechtsgeschichten wurden geschrieben (Paul Koschaker, Franz Wieacker), es gab ein europäisches Gemeinschaftsprojekt des römischen Rechts im Mittelalter (Ius Romanum Medii Aevi) und es kam zur Gründung eines Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte 1964 durch Helmut Coing, wiederum einen Frankfurter. Ihrer aller Grundidee lag darin, das mittelalterliche und frühneuzeitliche ,,ius commune" als ein verbindendes Element Europas wieder ins Bewusstsein zu heben, weniger um der europäischen Rechtsvereinheitlichung zuzuarbeiten als um die Breite und Tiefe der europäischen Rechtskultur zu erforschen.

Seit den sechziger Jahren war also die Realisierung der europäischen Einigung an die Juristen übergegangen. Das hatte, nach aller Erfahrung, seine Vorteile, weil die Juristen nun wirklich professionell arbeiten konnten. Sie schufen Institutionen, formulierten Normen aller Art, kümmerten sich um deren Durchsetzung und legten auf diese Weise ein immer dichter werdendes normatives Gespinst über Europa. Dies hatte aber auch, ebenfalls nach historischer Erfahrung, gewaltige Nachteile; denn es bedeutete den Übergang der Europa-Idee in die Hände der Bürokratie. Zwei Generationen später sehen wir deutlicher als damals, dass das optimistische Programm ,,Europa muss Rechtsgemeinschaft werden" auch Schattenseiten im Bewusstsein der Bürger hatte. Populisten in Dänemark, Irland, Niederlanden, Belgien und Frankreich, aber auch die deutschen Rechtsaußenparteien nutzen das Potential der Affekte gegen die ,,Bürokraten" und ihr Recht in Brüssel.

Damals schien der Widerstand gegen die europäische Einigung primär politischer Natur zu sein und aus Frankreich zu kommen. De Gaulle betrieb eine sowohl antienglische als auch anti-integrative Politik und bremste die europäische Integration für mehr als ein Jahrzehnt. Frankreich gebrauchte dreimal sein Veto gegen eine Einbeziehung Englands (1958, 1963, 1967) und es verhinderte eine Wiederwahl Hallsteins. Erst 1969 gelang es, den (1973 vollzogenen) Beitritt Englands, Dänemarks und Irlands durchzusetzen, und von da an gewann die Integrationspolitik neue Dynamik. Fasst man alle diese Entwicklungen zusammen und sieht sie als Geschichte einer werdenden europäischen Verfassung, dann kann man in der Tat von ,,Ansätzen zu einer Verfassungsgeschichte der Europäischen Union" sprechen, wie dies unser Kollege Manfred Zuleeg getan hat2. Page 467

Ich möchte im Folgenden nicht diesen Prozess des europäischen Weges zu einer ,,Rechtsgemeinschaft" von den Römischen Verträgen bis zum ablehnenden Votum Irlands nachzeichnen. Das wäre eine enorme und materialreiche Aufgabe. Ebenso möchte ich nicht die Entstehung des Europarechts als Wissenschaftsdisziplin schildern. Das wäre für Deutschland eine relativ kurze Geschichte, die kaum weiter als in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurückreicht3. In einer Veranstaltung, die um Claudio Magris zentriert ist, scheint es mir sinnvoller, den Maestro nicht mit der Geschichte der europäischen Institutionen der fünfziger und sechziger Jahre zu langweilen noch ihn in auf die steinigen Pfade der deutschen Wissenschaftsgeschichte Juristischer Fakultäten der fünfziger bis siebziger Jahre zu führen. Es liegt vielmehr nahe, etwas von der rechtshistorischen Tiefendimension zu vermitteln, die sich dem Blick der Rechtsgeschichte erschließt, wenn von Europa die Rede ist4.

Rechtshistoriker erinnern seit der Europaeuphorie der fünfziger Jahre daran, dass Europa vom 13. bis zum 18. Jahrhundert über eine prinzipiell homogene Wissenschaftskultur des Rechts verfügte. Das in den meisten europäischen Gebieten ,,rezipierte" römische Recht war ,,gemeines Recht" (ius commune). Die Juristen studierten es in Bologna und Padua, Prag, Heidelberg, Köln und Wien, in Bourges, Paris und Orléans, später in Uppsala, Krakau und anderswo. Die gelehrte Welt und die Kirche sprachen gemeinsam Latein. Nationale Grenzen gab es nicht. Die Bildungslandschaft war frei begehbar. Ausbildungsziele, Methodik, Gegenstände und das Wanderleben der Scholaren waren einheitlich und stilbildend für einen selbstbewussten Juristenstand, der seit dem 15. Jahrhundert überall in städtischen, fürstlichen und königlichen Verwaltungen und Gerichten das Bild bestimmte.

Gleichzeitig erhielt sich aber das überall vorhandene einheimische, lokale Recht. Die Parteien mussten es vor Gericht darlegen - etwa abweichendes Handelsrecht, Dorfrecht, Stadtrecht, Landrecht, lokale Gewohnheiten, Privilegien Einzelner usw. Europa war also rechtlich außerordentlich kompliziert: Es gab Recht, das auf die Person (und nur auf diese) bezogen war. Der Lehensmann, der Kaufmann, der Handwerker, der Bauer, der Priester, der Mönch und die Nonne lebten sämtlich in Sonderrechtskreisen, mit jeweils für sie gültigen Normen. Für die einen war der Lehensherr zuständig, später der Rat der Stadt oder der Landesherr, für die anderen Zunft und...

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